Die Geburt der Abstrakten Kunst: Ein Sprung in das Unbekannte

Im frühen 20. Jahrhundert, als die Welt inmitten politischer, sozialer und wissenschaftlicher Umbrüche stand, entstand eine Bewegung, die das Gesicht der Kunst für immer veränderte: die abstrakte Kunst. Diese neue Ausdrucksform ließ die vertrauten Grenzen der Realität hinter sich und tauchte ein in das Unbekannte – in eine Welt, in der Formen, Farben und Linien plötzlich zu den Protagonisten wurden und der Gegenstand selbst verschwinden durfte.

Die Abstraktion war mehr als nur eine Stilrichtung; sie war eine Revolution des Sehens, des Denkens und des Schaffens. Sie stellte die Frage: Was ist Kunst wirklich? Muss sie die sichtbare Welt darstellen, oder kann sie etwas Tieferes, Unsichtbares erforschen? Der Übergang von der gegenständlichen zur abstrakten Kunst war kein einfacher Schritt – es war ein Bruch mit Jahrhunderten künstlerischer Traditionen. Aber es war auch ein Befreiungsschlag, der den Künstlern eine völlig neue Freiheit des Ausdrucks ermöglichte.

Die Ursprünge: Eine Welt im Wandel

Um die Entstehung der abstrakten Kunst zu verstehen, müssen wir die Zeit betrachten, in der sie geboren wurde. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts befand sich die Welt in einer Phase des radikalen Wandels. Die Industrialisierung, die Entdeckung der Relativitätstheorie durch Einstein und die Entwicklungen in der Psychologie durch Freud veränderten das menschliche Verständnis von Raum, Zeit und Bewusstsein grundlegend. Parallel dazu gerieten alte soziale Strukturen ins Wanken, und der Erste Weltkrieg zerstörte das Vertrauen in die Stabilität und Beständigkeit der alten Weltordnung.

Auch die Kunstwelt begann, sich von den Konventionen der Vergangenheit zu lösen. Künstler wie Paul Cézanne, Vincent van Gogh und Claude Monet hatten bereits den Weg für neue Ausdrucksformen geebnet, indem sie die Grenzen der gegenständlichen Malerei dehnten und die Wahrnehmung der Realität in Frage stellten. Sie begannen, Farbe und Form als eigenständige Elemente zu behandeln und damit die Bedeutung der Abbildung von Wirklichkeit aufzulösen.

Doch es war ein Künstler, der als der eigentliche Begründer der abstrakten Kunst gilt: Wassily Kandinsky. Der russische Maler war tief beeindruckt von der emotionalen Kraft der Musik und suchte nach einer Möglichkeit, ähnliche abstrakte Gefühle in der Malerei auszudrücken. Kandinsky war davon überzeugt, dass Farben und Formen eine eigene spirituelle und emotionale Bedeutung besitzen, die unabhängig von der Darstellung der äußeren Welt existiert. In seinem Werk „Über das Geistige in der Kunst“ (1911) legte er den Grundstein für eine Kunst, die jenseits der sichtbaren Realität operierte. Für ihn war die Kunst ein Medium, um das Unsichtbare, das Transzendente zu erfassen.

Der Bruch mit der Realität

Die abstrakte Kunst repräsentierte einen radikalen Bruch mit dem traditionellen Verständnis von Kunst als Abbild der Wirklichkeit. Statt Landschaften, Menschen oder Gegenstände darzustellen, begann die abstrakte Kunst, sich auf die Essenz der Malerei selbst zu konzentrieren: auf Linien, Formen, Farben und Texturen. Diese Elemente wurden zu den Hauptakteuren auf der Leinwand, und der Gegenstand selbst verschwand.

Dieser Bruch mit der Realität war nicht nur eine ästhetische Entscheidung, sondern auch eine philosophische. Die abstrakte Kunst stellte die Idee infrage, dass die sichtbare Welt die einzige Realität ist. Die Künstler dieser Bewegung wollten die unsichtbaren Kräfte hinter der sichtbaren Welt erforschen – Emotionen, Energien und geistige Zustände. Sie sahen die Kunst nicht mehr als eine bloße Repräsentation der Außenwelt, sondern als ein Mittel, um das Innenleben zu erforschen und auszudrücken.

Kandinsky erklärte, dass Farben „Resonanzen“ in der Seele hervorrufen können, ähnlich wie Töne in der Musik. Er malte nicht, um Dinge darzustellen, sondern um Emotionen und spirituelle Erfahrungen visuell auszudrücken. Seine Bilder schienen auf den ersten Blick chaotisch und unverständlich zu sein, aber sie basierten auf einer tiefen inneren Logik, die die sichtbare Welt hinter sich ließ.

Auch Künstler wie Kazimir Malevich gingen diesen Weg weiter. Malevichs berühmtes Werk „Schwarzes Quadrat“ (1915) wurde zum Sinnbild der radikalsten Form der Abstraktion. Für Malevich war dieses Werk der Ausdruck eines „Nullpunkts der Malerei“, an dem die Kunst von jeder Bindung an die sichtbare Welt befreit war. Das schwarze Quadrat stand für die völlige Abstraktion – eine reine Form ohne Bedeutung, die dennoch eine immense emotionale und philosophische Tiefe besaß.

Die Sprache der Formen und Farben

Die Abstrakte Kunst eröffnete eine völlig neue visuelle Sprache. Statt Gegenstände darzustellen, begannen Künstler, die formalen Elemente der Kunst – Linien, Farben, Formen und Komposition – zu erforschen. Diese Elemente wurden nicht mehr als Mittel zum Zweck, sondern als Selbstzweck betrachtet. Eine Linie war nicht länger der Umriss eines Objekts, sondern wurde zu einem dynamischen, energiegeladenen Ausdruck. Farben wurden nicht mehr verwendet, um Licht und Schatten zu simulieren, sondern um emotionale und psychologische Zustände direkt anzusprechen.

Künstler wie Piet Mondrian und Theo van Doesburg, die zu den Begründern der Bewegung De Stijl gehörten, entwickelten eine streng geometrische Abstraktion, die auf den Grundformen der Malerei basierte: dem Quadrat, dem Rechteck, den Primärfarben und den Grundlinien. Mondrians Werke wie „Komposition mit Rot, Blau und Gelb“ verzichteten auf jegliche Darstellung von Natur oder Menschen und reduzierten die Kunst auf ihre einfachsten und reinsten Elemente. Diese Werke strebten danach, eine perfekte Harmonie zwischen Form und Farbe zu erreichen und eine universelle Ordnung auszudrücken, die jenseits der sichtbaren Welt liegt.

In der Abstrakten Expressionismus-Bewegung, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem in den USA entwickelte, spielten Emotionen eine noch größere Rolle. Künstler wie Jackson Pollock und Mark Rothko nutzten die Leinwand als eine Bühne für den Ausdruck intensiver innerer Zustände. Pollocks berühmte „Drip Paintings“ waren ein Ausdruck spontaner, intuitiver Kreativität, bei dem die Farbe direkt auf die Leinwand getropft oder gespritzt wurde. Diese Technik, die völlig auf Planung oder Komposition verzichtete, war ein Versuch, das Unterbewusste direkt auszudrücken und den kreativen Prozess selbst zu feiern.

Abstraktion als spirituelle Suche

Viele Künstler der abstrakten Kunst sahen ihre Werke nicht nur als ästhetische Experimente, sondern als spirituelle Suche. Sie wollten die tiefere Wahrheit hinter der sichtbaren Welt erforschen. Diese Wahrheit war für sie nicht durch die Darstellung der äußeren Wirklichkeit zu erreichen, sondern nur durch die Erforschung von Formen, Farben und Strukturen.

Künstler wie Kandinsky, Malevich und Mondrian waren stark von spirituellen und mystischen Strömungen beeinflusst. Sie sahen die Kunst als eine Art spirituelles Werkzeug, das den Künstler und den Betrachter mit einer tieferen, universellen Realität verbinden konnte. Kandinsky glaubte, dass die abstrakte Kunst in der Lage sei, die Seele direkt anzusprechen und eine spirituelle Transformation auszulösen.

Auch die Bauhaus-Schule, die von Walter Gropius gegründet wurde und die Künstler wie Kandinsky, Paul Klee und László Moholy-Nagy anzog, vertrat die Ansicht, dass Kunst eine transformative Kraft besitze. Die Bauhaus-Künstler entwickelten eine abstrakte Formsprache, die auf universellen Prinzipien basierte, und strebten danach, Kunst und Leben miteinander zu verbinden. Sie sahen ihre Arbeit als einen Beitrag zu einer neuen, harmonischen Gesellschaft, in der Kunst, Architektur und Design eine Einheit bilden würden.

Die Abstrakte Kunst als Ausdruck des Unendlichen

Die Entstehung der abstrakten Kunst war ein revolutionärer Schritt in der Geschichte der Kunst. Sie befreite die Kunst von der Notwendigkeit, die sichtbare Welt darzustellen, und eröffnete neue Dimensionen des Ausdrucks. Die Künstler dieser Bewegung wollten nicht nur die Formen und Farben erkunden, sondern auch die unsichtbaren, transzendenten Realitäten, die hinter der sichtbaren Welt liegen.

Die abstrakte Kunst ist ein Ausdruck des Unendlichen. Sie stellt keine Objekte dar, sondern schafft Räume, in denen der Betrachter seine eigene innere Welt entdecken kann. Sie fordert den Betrachter auf, die Kunst nicht als Abbild der äußeren Wirklichkeit zu sehen, sondern als eine Tür zu neuen Dimensionen des Denkens, Fühlens und Seins.

Die abstrakte Kunst lehrt uns, dass es in der Kunst – und im Leben – nicht immer darum geht, etwas zu erkennen oder zu benennen. Manchmal geht es darum, sich dem Unbekannten zu öffnen, das Unsichtbare zu erforschen und die Welt mit neuen Augen zu sehen. In diesem Sinne bleibt die abstrakte Kunst eine unerschöpfliche Quelle der Inspiration, die uns immer wieder auffordert, über die Grenzen des Sichtbaren hinauszugehen und das Unendliche zu umarmen.

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