Was heißt ‚Sein‘? – Eine Untersuchung zur ontologischen Grundfrage

Die Frage nach dem Sein ist die älteste und zugleich grundlegendste aller philosophischen Fragen. Was bedeutet es, dass etwas ist? Was unterscheidet das Seiende vom Nichts? Ist das Sein selbst ein Ding, eine Eigenschaft, ein Prinzip – oder ist es die unsichtbare Bedingung aller Erscheinung? Seit den Vorsokratikern hat die Philosophie versucht, diese Frage zu stellen – nicht um das Sein zu definieren, sondern um es zu verstehen: als das, was allem zugrunde liegt, was alles ermöglicht, ohne selbst ein Ding unter Dingen zu sein.

Diese Suche nach dem, was alles übersteigt und doch in allem gegenwärtig ist, nennen wir Ontologie – die Lehre vom Sein. Die ontologische Grundfrage, „Was heißt Sein?“, ist keine empirische, keine mathematische, keine moralische Frage. Sie ist eine Frage nach der Möglichkeit aller Fragen, nach dem, was überhaupt möglich macht, dass etwas gedacht, gesagt oder erfahren werden kann. In ihr begegnet die Philosophie ihrem eigenen Ursprung – und ihrem nie ganz einholbaren Gegenstand.

Sein als Anwesenheit – Die klassische Metaphysik

In der klassischen Metaphysik, etwa bei Platon und Aristoteles, wird das Sein zunächst als eine Form der Gegenwart, als Anwesenheit verstanden. Bei Platon bedeutet „sein“ im tiefsten Sinn: wahrhaft sein, d. h. in der unvergänglichen Welt der Ideen bestehen. Die sichtbare Welt ist nur ein Abbild, eine Erscheinung, die am Sein teilhat, aber es nicht in seiner Reinheit besitzt.

Aristoteles hingegen führt eine differenziertere Sichtweise ein: Für ihn ist das Sein vielfältig gesagtpollachôs legomenon to on. Das heißt: Sein ist nicht einheitlich, sondern zeigt sich in unterschiedlichen Weisen, etwa als Substanz, als Eigenschaft, als Relation. Dennoch gibt es für ihn eine oberste Form des Seins – das „Sein als Sein“ –, das er in der Substanz, im Wesenhaften, verankert sieht.

Für beide ist das Sein also eng mit dem Dauerhaften, dem Stabilen, dem Grundlegenden verbunden. Etwas „ist“ im vollen Sinn, wenn es bleibt, wenn es sich selbst genügt, wenn es Ursprung anderer Dinge ist. Das wahrhaft Seiende ist das, was nicht vergeht.

Das Sein im mittelalterlichen Denken – Sein als Partizipation

In der christlich geprägten Philosophie des Mittelalters – insbesondere bei Augustinus, Thomas von Aquin und Meister Eckhart – wird das Sein zunehmend im Licht der Theologie interpretiert. Hier wird das Sein nicht als abstraktes Prinzip, sondern als Wirken Gottes verstanden.

Gott ist das „Esse ipsum subsistens“ – das Sein selbst in Person, der Urquell alles Seienden. Alles andere seiende hat sein Sein nicht aus sich, sondern teilnimmt am Sein, indem es von Gott geschaffen ist. Dieses Denken führt zu einer Ontologie der Abhängigkeit: Alles Seiende ist empfangenes Sein, ein Abglanz des göttlichen Ursprungs.

Bei Meister Eckhart radikalisiert sich dieser Gedanke: Gott ist nicht nur das höchste Seiende, sondern jenseits des Seins – das Über-Seiende. Damit wird das Sein nicht nur als das Höchste, sondern auch als transzendiertes Geheimnis gedacht: Es ist das, was allem zugrunde liegt, aber selbst unzugänglich, unaussprechlich, nicht fassbar ist.

Heidegger und die Wiederentdeckung der Seinsfrage

Im 20. Jahrhundert unternimmt Martin Heidegger den Versuch, die Frage nach dem Sein aus ihrer metaphysischen Erstarrung zu befreien. In seinem Hauptwerk Sein und Zeit (1927) kritisiert er die gesamte abendländische Tradition dafür, das Sein zu schnell mit dem Seienden gleichgesetzt zu haben.

Für Heidegger ist das Sein nicht ein Ding, nicht eine Eigenschaft, nicht etwas, das irgendwo „ist“. Es ist vielmehr das Offensein, das Erscheinen, das Sich-Zeigen des Seienden. Heidegger spricht von der „Lichtung des Seins“ – dem Raum, in dem etwas überhaupt erst erfahrbar wird. Sein ist also die Bedingung der Möglichkeit von Welt, aber selbst kein Objekt dieser Welt.

Die Seinsfrage ist bei Heidegger auch eine existenzielle Frage: Sie betrifft nicht nur, was Dinge sind, sondern wie wir als Menschen in der Welt sind. Der Mensch – als das „Dasein“ – ist das Wesen, dem das Sein eine Angelegenheit ist. Das bedeutet: Nur der Mensch kann sich zum Sein in Beziehung setzen, es erfragen, verstehen, verfehlen.

Heidegger spricht vom „Vergessen des Seins“ als der Grundkrankheit der modernen Welt: Wir leben unter der Herrschaft des Technischen, des Berechenbaren, des Effektiven – und haben vergessen, dass das Sein nicht verfügbar, sondern gegeben, zugesprochen, geschenkt ist.

Sein, Sprache und Wahrheit

Ein zentrales Thema in der neueren Ontologie ist das Verhältnis von Sein und Sprache. Denn das Sein ist nicht einfach da – es muss bezeichnet, gesprochen, gedeutet werden.

Heidegger, Gadamer und andere hermeneutische Denker zeigen: Sprache ist nicht bloß ein Werkzeug, um über Seiendes zu sprechen – sie ist der Ort, an dem sich Sein überhaupt erst offenbart. Sprache ist das Medium, durch das Wirklichkeit erscheint.

Das hat auch Auswirkungen auf unser Verständnis von Wahrheit: Wahrheit ist nicht bloß Übereinstimmung zwischen Begriff und Sache (adaequatio), sondern ein Geschehen, in dem etwas aus der Verborgenheit ins Offene tritt. Heidegger nennt dies aletheiaEntbergung.

Das bedeutet: Sein ist nicht etwas Festes, sondern etwas Dynamisches, etwas, das sich zeigt und zugleich entzieht, das im Sagbaren aufscheint, aber im Unausgesprochenen weiterwirkt. In jedem wirklichen Sprechen liegt ein Anruf des Seins, eine Spur des Unverfügbaren, das mehr ist als das, was wir begreifen können.

Sein als Beziehung – Zwischen Prozess und Einheit

In der Gegenwartsphilosophie finden sich auch Versuche, das Sein nicht als Substanz, sondern als Beziehung, als Prozess, als Ereignis zu denken. Philosophien wie der Prozessontologie (Whitehead), der Dialogphilosophie (Buber, Levinas) oder der relationalen Ontologie zeigen: Sein ist nicht das starre Sein eines isolierten Dings, sondern das lebendige Wechselspiel, das Zwischen, das Mit, das sich im Bezug auf Anderes konstituiert.

In diesem Sinn ist Sein kein Besitz, sondern Teilhabe, kein Objekt, sondern ein Geschehen. Alles, was ist, ist im Werden, ist durch Anderes bestimmt, ist verwoben in ein Netz von Bedeutungen, Einwirkungen und Erscheinungen.

Dieser dynamische Seinsbegriff betont, dass wir das Sein nicht kontrollieren, aber antwortend begegnen können – in der Ethik, in der Liebe, im Dialog, in der Kunst, im Denken selbst. Die Grundhaltung zum Sein ist dann nicht Machbarkeit, sondern Hören, Staunen, Erwidern.

Die Erfahrung des Seins – Phänomenologie und die Unmittelbarkeit des Da-Seins

Die phänomenologische Philosophie, insbesondere in der Tradition von Edmund Husserl und Martin Heidegger, hat das Verständnis des Seins um eine entscheidende Dimension erweitert: das Erleben. Denn das Sein ist nicht nur ein theoretischer Begriff, sondern etwas, das uns im Erfahren, Wahrnehmen und In-der-Welt-Sein begegnet.

Für Husserl bedeutet dies, das „Zu-den-Sachen-selbst“ zurückzukehren – also das Seiende nicht über abstrakte Theorien zu erklären, sondern es in seiner unmittelbaren Gegebenheit zu beschreiben. Das Sein eines Dings zeigt sich im Bewusstsein, in der Weise, wie es intentional erscheint, als etwas, für jemanden. Hier tritt das Sein nicht als abstrakter Metabegriff auf, sondern als gelebte Wirklichkeit, als konkrete Sinnhaftigkeit.

Heidegger geht noch einen Schritt weiter: Für ihn ist das Sein nicht einfach da, sondern geschieht im „Da“ des Daseins – des Menschen, der offen ist für die Welt. Das Dasein ist dasjenige Seiende, das sich zum Sein selbst verhält, das sich fragt, das sich selbst als seiend versteht. Das bedeutet: Die Erfahrung des Seins ist stets eine Selbst-Erfahrung, ein Verstehen, das nicht nur intellektuell, sondern existentiell ist.

Hier gewinnt das Sein eine zeitliche und geschichtliche Struktur: Es zeigt sich nicht auf einmal, sondern in einem Prozess des Enthüllens, des Entbergens, der Geschichte des Sich-Zeigens. Es gibt kein neutrales Sein – es gibt nur das je-mir-offene Sein, das in meiner Welt erscheint, in meinem Handeln, Denken, Lieben, Leiden.

Sein und Nichts – Die Spannung des Ursprungs

Eine vollständige Untersuchung des Seins muss auch das Nichts mitdenken – nicht als bloße Negation, sondern als wesentlichen Gegensatz, ohne den das Sein nicht erfahrbar wäre. Heidegger hat dies mit Nachdruck formuliert: „Das Nichts selbst nichtet.“ Das heißt: Das Nichts ist nicht einfach die Abwesenheit von etwas, sondern eine ursprüngliche Erfahrung, die das Sein ins Licht rückt.

In der Erfahrung der Vergänglichkeit, der Endlichkeit, des Zweifels, des Scheiterns zeigt sich das Sein nicht als gesicherter Besitz, sondern als gefährdete, flüchtige, prekäre Erscheinung. Diese Erfahrung des Nichts ist kein nihilistischer Abgrund, sondern ein metaphysischer Resonanzraum, in dem die Frage nach dem Sein überhaupt erst aufscheint.

Auch in der existenzphilosophischen Tradition – etwa bei Kierkegaard, Nietzsche und später Sartre – wird das Nichts zur konstitutiven Gegenwart im menschlichen Leben. Das Sein ist nicht nur, es könnte auch nicht sein – und gerade diese Möglichkeit verleiht ihm Dringlichkeit, Tiefe, Existenz.

Das Nichts ruft das Bewusstsein zur Freiheit – zur Verantwortung, zur Entscheidung. Denn wer das Nichts erkennt, erkennt auch, dass das Sein nicht selbstverständlich ist. Es ist Geschehen, Gabe, Offenheit – nicht Besitz, sondern Aufgabe.

Ontologie als ethischer Horizont – Sein und Verantwortung

Die Frage nach dem Sein ist nicht nur theoretisch, sondern auch ethisch aufgeladen. Wer sich fragt, was „sein“ heißt, fragt auch: Was soll ich tun, da ich bin? Wie kann ich meinem Sein gerecht werden? Wie kann ich es verantworten?

Bei Levinas wird dies besonders deutlich: Für ihn offenbart sich das Sein vor allem in der Begegnung mit dem Anderen – in dessen Antlitz, das mich anschaut, unterbricht, zur Verantwortung ruft. Sein ist nicht zuerst Gegebenheit, sondern Verpflichtung. Es ist das, was mich nicht in Ruhe lässt, was mich auffordert, über mich hinaus zu gehen.

Hier wird Ontologie zur Ethik – nicht als bloßes Regelwerk, sondern als Antwort auf das Angewiesensein, auf die Tatsache, dass mein Sein immer schon mit dem Sein anderer verbunden ist. Ich bin nicht einfach da – ich bin mit, ich bin für, ich bin in einer Welt, in der Sein immer auch Teilhabe, Mitsein, Verantwortung bedeutet.

Damit verbindet sich die ontologische Grundfrage mit der Frage nach dem Guten, nach der Würde, nach dem richtigen Leben – nicht als äußerer Zusatz, sondern als innerer Horizont, der dem Sein Sinn verleiht.

Sein als Ursprung der Sinngebung – Zwischen Denken und Danken

In der finalen Betrachtung der ontologischen Grundfrage rückt ein Moment in den Vordergrund, das oft in der systematischen Philosophie übersehen wird: das Staunen über das Sein. Denn bevor der Mensch denkt, bevor er fragt oder analysiert, steht er sprachlos vor dem, was einfach ist – und das in einer Weise, die nicht notwendig war.

Dieses Erstaunen – das schon bei Aristoteles den Beginn der Philosophie markiert – verweist auf eine Grundbewegung des Geistes: das Danken. Der Mensch erkennt, dass das Sein nicht von ihm gemacht, sondern ihm gegeben ist. Dass die Welt nicht sein müsste, dass das eigene Dasein nicht selbstverständlich ist.

Dieses vorgängige Ja zur Welt, das sich nicht aus Argumenten ergibt, sondern aus einer erlebten Annahme des Seins, ist keine bloß religiöse Haltung, sondern eine existenzphilosophische Grundgeste. Der Philosoph Jean-Luc Marion etwa spricht von der „Gegebenheit des Seins“ als einer Spur der Gabe – das Sein zeigt sich, aber es gehört uns nicht. Es ist Geschehen, nicht Besitz.

So wird das Denken des Seins zu einer Bewegung des Antwortens: Wir antworten auf das, was sich entzieht, indem wir es ernst nehmen, indem wir mitdenken, mitfühlen, mitverantworten. In diesem „Antworten“ verbinden sich Vernunft und Demut, Klarheit und Staunen, Frage und Vertrauen.

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