1. A-Z
  2. Philosophie
    1. Metaphysik & Ontologie
    2. Logik & Denken
    3. Erkenntnistheorie
    4. Ethik & Moral
    5. Kunstphilosophie
    6. Sprachphilosophie
    7. Epochen & Schulen
  3. Theologie
    1. Religiöse Denker & Mystiker
    2. Dogmatik & Glaubenslehre
    3. Sakramententheologie
    4. Fundamentaltheologie
    5. Liturgiewissenschaft
    6. Kirchengeschichte
    7. Eschatologie
  4. Themen
    1. Kunstgeschichte
    2. Musikwissenschaft
    3. Kultur & Gesellschaft
    4. Astronomie
  5. Blog
    1. Plattform zu Aristoteles
    2. Plattform zu Thomas von Aquin
    3. Plattform zu Meister Eckhart
    4. Plattform für christliche Mystik
    5. Aktuelle Blog-Artikel
  6. Forum
    1. Willkommen im Forum
    2. Allgemeine Forum Regeln
    3. Gästebereich (Q&A)
    4. Mitglieder
    5. Wer ist Online?
  7. Lexikon
  8. Kalender
    1. Anstehende Termine
  9. Features
    1. Inhalt-Finden
    2. Letzte Aktivitäten
    3. Bildergalerie & Artwork
    4. Kostenlos Registrieren
    5. Kategorien
    6. Mitgliedersuche
    7. Suche nach Tags
  • Anmelden
  • Registrieren
  • Suche
Blog-Artikel
  • Alles
  • Artikel
  • Seiten
  • Blog-Artikel
  • Termine
  • Forum
  • Galerie
  • Lexikon
  • Erweiterte Suche
  1. input-finden.at
  2. Blog
  3. Plattform zu Aristoteles - Denken mit Substanz

Die Tugendethik: Das Streben nach dem „rechten Maß“ (mesotes) und die Idee der aretē (Tugend)

  • input-finden
  • 23. April 2025 um 10:48
  • 128 Mal gelesen
Inhaltsverzeichnis [VerbergenAnzeigen]
  1. Die aretē – Tugend als Vollendung der menschlichen Natur
  2. Die mesotes – Das rechte Maß als ethisches Prinzip
  3. Die Tugenden als Ordnung der Seele – Einheit von Gefühl, Wille und Vernunft
  4. Das Ziel der Tugend: Eudaimonia als erfülltes Leben
  5. Tugend als Lebensform – Die Rolle der Gewohnheit und der Charakterbildung
  6. Phronēsis – Die praktische Weisheit als Schlüssel der Tugend
  7. Die politische Dimension der Tugend – Ethik und Polis
  8. Kontemplation als höchste Lebensform – Die Vollendung der Tugend im Denken
  9. Die Mitte als Bewegung – Tugend zwischen Starrheit und Beliebigkeit
  10. Emotionen und Vernunft – Die Affekte als Teil des ethischen Lebens
  11. Freundschaft als Schule der Tugend – Das Ethische im Zwischenmenschlichen
  12. Tugend und Endlichkeit – Ethische Größe unter Bedingungen der Welt

Die Ethik des Aristoteles ist mehr als ein Katalog moralischer Vorschriften. Sie ist Ausdruck einer umfassenden anthropologischen Vision, die den Menschen in seiner natürlichen Anlage, seiner gesellschaftlichen Verfasstheit und seiner geistigen Zielrichtung zu verstehen sucht. Im Zentrum dieser Lehre steht die Überzeugung, dass das moralische Handeln nicht aus äußerem Zwang, sondern aus einer inneren Bewegung zur Vervollkommnung hervorgeht. Der Mensch ist ein Wesen, das aus sich heraus nach dem Guten strebt, das seine Erfüllung nicht in bloßer Lust, nicht in Reichtum, Macht oder Ruhm, sondern in einer bestimmten Form des Lebens findet: dem tugendhaften Leben, das durch vernünftige Mitte, durch das rechte Maß, durch aretē bestimmt ist.

Aristoteles sieht den Menschen als ein Wesen, das zwischen Natur und Freiheit, Trieb und Vernunft, Gewohnheit und Entscheidung lebt. Diese Spannung ist nicht zu überwinden, aber zu ordnen. Die Ethik ist für ihn deshalb keine abstrakte Theorie, sondern eine Lebenskunst, ein Weg der Charakterbildung, auf dem der Mensch lernt, seine Affekte, Begierden, Handlungen und Entscheidungen gemäß der Vernunft zu gestalten. Das Ziel ist nicht bloß sittliche Korrektheit, sondern die Eudaimonia – die Glückseligkeit, verstanden als Zustand gelingenden Lebens, als tiefes, erfülltes Sein in Übereinstimmung mit dem eigenen Wesen.

Die aretē – Tugend als Vollendung der menschlichen Natur

Zentral für diese Ethik ist der Begriff der aretē, der griechisch viel mehr bedeutet als das deutsche Wort „Tugend“. Aretē meint Exzellenz, Vollkommenheit, die höchste Entfaltung eines Potentials, die Verwirklichung dessen, was etwas seinem Wesen nach zu sein bestimmt ist. Ein Messer hat seine aretē, wenn es gut schneidet. Ein Pferd hat seine aretē, wenn es kräftig und schnell läuft. Und der Mensch hat seine aretē, wenn er gemäß seiner spezifischen Natur – als vernünftiges Lebewesen – lebt und handelt. Die menschliche Tugend ist daher die Verfassung der Seele, in der Denken, Fühlen und Wollen in eine harmonische Ordnung gebracht sind.

Diese Tugenden sind nicht angeboren wie Instinkte, sondern erworben, durch Gewöhnung, durch Übung, durch Einsicht. Die Tugend ist für Aristoteles ein Habitus, eine bleibende Haltung, die es dem Menschen ermöglicht, in konkreten Situationen richtig zu urteilen und zu handeln. Der tugendhafte Mensch ist nicht der, der sich an starren Regeln orientiert, sondern derjenige, der gelernt hat, im richtigen Moment auf rechte Weise zu reagieren – mit Mut oder Mäßigung, mit Gerechtigkeit oder Großherzigkeit, mit Wahrhaftigkeit oder Besonnenheit.

Die mesotes – Das rechte Maß als ethisches Prinzip

Der berühmteste Gedanke der aristotelischen Tugendlehre ist der der mesotes, des rechten Maßes. Aristoteles beschreibt die Tugend als eine Haltung, die in der Mitte zwischen zwei Extremen liegt – zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig. Mut liegt zwischen Tollkühnheit und Feigheit, Freigebigkeit zwischen Verschwendung und Geiz, Sanftmut zwischen Jähzorn und Gleichgültigkeit. Diese Mitte ist nicht mathematisch, sondern situationsbezogen; sie hängt ab von der Person, dem Kontext, dem Ziel. Die mesotes ist ein Maß im Verhältnis zum Handelnden, eine vernünftige Mitte, die durch praktische Weisheit (phronēsis) gefunden wird.

Dieses Denken widerspricht sowohl moralischer Starrheit als auch moralischer Beliebigkeit. Es gibt keine universale Formel für das Gute, aber es gibt eine strukturierende Vernunft, die im Menschen angelegt ist und durch Erfahrung, Urteilskraft und Gewöhnung geschärft wird. Die Tugend ist also kein äußerlicher Maßstab, sondern eine innere Disposition, die das Handeln flexibel und doch verlässlich macht. Gerade darin liegt ihre ethische Kraft: Sie verbindet das Allgemeine mit dem Konkreten, das Ideale mit dem Wirklichen.

Die Tugenden als Ordnung der Seele – Einheit von Gefühl, Wille und Vernunft

Aristoteles versteht den Menschen als ein seelisches Ganzes, in dem verschiedene Kräfte – Begierde, Affekt, Vernunft – miteinander ringen und aufeinander bezogen sind. Die Tugend besteht darin, dass diese Kräfte in eine natürliche, vernunftgemäße Ordnung gebracht werden. Nicht die Vernichtung der Affekte ist Ziel, sondern ihre Einfügung in das vernünftige Maß. Mäßigung heißt nicht, nichts zu begehren, sondern das Begehren in rechter Weise zu leben. Mut heißt nicht, keine Angst zu haben, sondern die Angst in den Dienst eines guten Zieles zu stellen.

Die Tugend ist also eine Form der seelischen Harmonie, nicht im Sinne bloßer Ausgeglichenheit, sondern als dynamisches Gleichgewicht, das aus der Spannung der Kräfte entsteht. Dieses Gleichgewicht wird durch Gewöhnung und Bildung eingeübt, aber es ist immer auch eine Sache der Einsicht und Entscheidung. Denn der Mensch ist für Aristoteles kein Sklave seiner Triebe, sondern ein Wesen, das durch Denken und Wollen sein Leben gestalten kann. Und genau darin liegt seine Würde – in der Fähigkeit, nicht bloß zu leben, sondern gut zu leben, nicht bloß zu existieren, sondern zu exzellieren.

Das Ziel der Tugend: Eudaimonia als erfülltes Leben

Die Eudaimonia, die Glückseligkeit, ist für Aristoteles das höchste Gut, das letzte Ziel allen menschlichen Strebens. Sie ist kein bloßer Seelenzustand, kein Glücksgefühl, sondern ein Zustand objektiver Erfüllung, in dem der Mensch gemäß seiner Natur lebt. Und diese Natur ist die eines vernünftigen, politischen, sprechenden, sozialen Wesens, das auf Erkenntnis und Gemeinschaft hin ausgerichtet ist. Die Eudaimonia ist daher ein Leben in Tugend, das sich im Denken, im Handeln, im Umgang mit anderen, in der Gestaltung des eigenen Lebens entfaltet.

Dieses Leben ist nicht leicht. Es erfordert Übung, Bildung, Mut, Maß. Aber es ist das wahre Ziel des Menschen, weil es seine tiefste Bestimmung erfüllt. In der Tugend erreicht der Mensch sich selbst, nicht indem er sich verwirklicht im modernen Sinn, sondern indem er sich an der Ordnung des Guten ausrichtet, die in der Welt selbst angelegt ist. Die Ethik des Aristoteles ist so auch eine Metaphysik der Selbstverwirklichung – nicht als subjektives Projekt, sondern als Teilnahme an einer objektiven Ordnung, die den Menschen über sich hinausführt.

Tugend als Lebensform – Die Rolle der Gewohnheit und der Charakterbildung

Für Aristoteles ist die aretē, die Tugend, kein spontanes Talent, kein angeborenes Geschenk, sondern ein Resultat bewusster Gewöhnung. Der Weg zur Tugend führt über Wiederholung, über Praxis, über das tägliche Einüben guter Entscheidungen. Der Mensch wird gut, indem er das Gute tut – nicht einmal, sondern immer wieder, bis es zur zweiten Natur geworden ist. Diese Verbindung von Handlung und Charakter bedeutet: Der ethische Mensch ist nicht einfach einer, der im rechten Moment richtig handelt, sondern einer, der dazu geworden ist, dessen Seele durch Erfahrung und Einsicht so geformt ist, dass das Gute ihm zur Neigung wird.

Dieses ethische Lernen geschieht nicht im Vakuum. Es ist eingebettet in das soziale Leben, in die Familie, die Freundschaft, die politische Gemeinschaft. Die Umgebung ist für Aristoteles nicht neutral, sondern entweder eine Schule der Tugend oder eine Quelle der Verirrung. Deshalb gehört zur Ethik auch eine Erziehung zur Vernunft, eine kluge Auswahl der Vorbilder, eine bewusste Gestaltung des Lebensumfelds. Der Einzelne wird nicht unabhängig von seinem Milieu tugendhaft, sondern im Wechselspiel von persönlicher Entscheidung und sozialer Prägung.

Dabei bleibt der Mensch stets ein Wesen, das auch irren, versagen, schuldig werden kann. Aber gerade diese Möglichkeit macht die Tugend umso kostbarer – sie ist nicht selbstverständlich, sondern das Ergebnis eines inneren Ringens, einer ständigen Arbeit an sich selbst. Die Ethik des Aristoteles ist deshalb auch eine Ethik der Geduld, der Selbsterkenntnis und der Maßnahme. Sie verlangt nicht Perfektion, sondern Bemühen um Stimmigkeit, um das, was in einer bestimmten Situation dem Guten entspricht.

Phronēsis – Die praktische Weisheit als Schlüssel der Tugend

Im Herzen der Tugendlehre steht bei Aristoteles die phronēsis, die praktische Weisheit, die Kunst, in konkreten Situationen das rechte Maß zu finden. Sie ist keine abstrakte Theorie, sondern eine gelebte Urteilskraft, die auf Erfahrung, Besonnenheit und Klarheit beruht. Phronēsis ist das, was den tugendhaften Menschen vom bloß moralischen Dogmatiker unterscheidet. Sie weiß, dass das Gute nicht immer einfach erkennbar ist, dass es abgewogen, durchdacht, manchmal sogar intuitiv erfasst werden muss. Sie verbindet Klugheit mit Mut, Einsicht mit Entschiedenheit, Vernunft mit Liebe zum Guten.

Ohne phronēsis bleibt Tugend blind. Denn selbst Mut kann zerstören, wenn er nicht weiß, wann und wofür er gebraucht wird. Großzügigkeit kann in Verschwendung ausarten, Gerechtigkeit in Hartherzigkeit. Die Tugend ist deshalb nur dann vollkommen, wenn sie vom Licht der Weisheit durchdrungen ist. Und diese Weisheit ist wiederum nur im Leben, im konkreten Handeln, in der Erfahrung der Welt zu gewinnen – nicht in Theorien allein. So ist phronēsis das organische Zentrum der Tugendethik: Sie steuert, was die anderen Tugenden ausrichten. Sie ist das geistige Auge, das die Mitte erkennt, die das Leben fordert.

Die politische Dimension der Tugend – Ethik und Polis

Für Aristoteles ist der Mensch von Natur aus ein zoon politikon, ein soziales, gemeinschaftliches Wesen, das seine Tugenden nicht im Rückzug, sondern im Miteinander entfaltet. Die Tugend ist kein Privatgut, sondern ein öffentliches Ethos, das sich in der Freundschaft, im Diskurs, in der Teilhabe an der Gemeinschaft bewährt. Eine gerechte Polis ist für ihn daher nicht bloß Rechtsordnung, sondern eine Lebensform, in der das Gute möglich wird. Die politische Ordnung soll den Raum schaffen, in dem die Menschen tugendhaft leben können – in Frieden, in Gerechtigkeit, in gegenseitiger Anerkennung.

Die Politik ist damit nicht bloß ein Instrument zur Verteilung von Macht und Reichtum, sondern ein ethischer Rahmen, ein Ort der Bürgerbildung, der moralischen Reifung, der gemeinsamen Orientierung am Guten. Nur wer in der Polis lebt, kann ganz Mensch sein – denn nur hier begegnet der Mensch dem Anderen als Gleichem, als Mitbürger, als Gegenüber, an dem sich die Tugenden erproben und entfalten. Freundschaft, Gerechtigkeit, Großherzigkeit – sie alle sind Tugenden, die sich nur in der lebendigen sozialen Beziehung bewähren.

Kontemplation als höchste Lebensform – Die Vollendung der Tugend im Denken

So sehr Aristoteles die praktischen Tugenden betont, so wenig vergisst er, dass das menschliche Leben nicht nur Handeln, sondern auch Denken ist. In seinem Spätwerk, besonders in der Nikomachischen Ethik, hebt er das theoretische Leben, das bios theoretikos, als die höchste Form menschlicher Existenz hervor. In der Kontemplation des Wahren, in der Betrachtung des Ewigen, in der Hingabe an das Denken selbst verwirklicht sich die spezifisch menschliche Fähigkeit zur Vernunfterkenntnis in reinster Form.

Diese Form des Lebens ist nicht jedem möglich, sie setzt Muße, Bildung, geistige Ruhe voraus – aber sie ist das Ziel, auf das das moralische Leben zuläuft. Die Tugend des praktischen Lebens reinigt und bereitet die Seele vor, damit sie sich in der Schau des Seienden, in der stillen Übereinstimmung mit der Wahrheit vollendet. Das Gute ist dann nicht mehr nur Handlung, sondern geistige Gegenwart des Ganzen – ein Sein in Einklang mit dem, was ist, ein Denken, das nicht benutzt, sondern verehrt.

Die Mitte als Bewegung – Tugend zwischen Starrheit und Beliebigkeit

Ein oft missverstandener Aspekt der aristotelischen mesotes-Lehre ist die Annahme, das „rechte Maß“ sei ein fixer Mittelwert zwischen zwei Extremen. Doch für Aristoteles ist die Mitte kein statischer Punkt, sondern eine dynamische Orientierung, ein lebendiger, situationsbezogener Ausgleich, der in jedem Moment neu gefunden werden muss. Der gerechte Zorn etwa ist nicht immer gleich stark, die angemessene Großzügigkeit hängt vom Kontext ab, die richtige Tapferkeit sieht in Friedenszeiten anders aus als im Angesicht der Gefahr. Tugend ist deshalb nicht bloß Ausgewogenheit, sondern Feinfühligkeit des Geistes, eine Art sittlicher Intuition, geschärft durch Erfahrung, Urteilskraft und inneres Maß.

Das rechte Maß ist eine Sache der konkreten Urteilskraft – es erfordert den ganzen Menschen, sein Wissen, seine Erfahrung, seine Emotionen, seine Klugheit. Es ist nie bloß Regelbefolgung, sondern immer auch eine Aktualisierung der Vernunft im Hier und Jetzt. Die Tugend bewegt sich damit zwischen zwei Irrtümern: der mechanistischen Moral, die alles in Vorschriften auflöst, und dem moralischen Relativismus, der jedes Maß verliert. Aristoteles meidet beides, indem er auf eine verinnerlichte Urteilskraft setzt, die sich in einem über Jahre hinweg geformten Charakter verkörpert.

Emotionen und Vernunft – Die Affekte als Teil des ethischen Lebens

Ein weiterer zentraler Punkt in der Tugendethik des Aristoteles ist der Umgang mit Affekten. Anders als in manchen späteren Traditionen, etwa im Stoizismus, sind Gefühle für Aristoteles nicht prinzipiell negativ oder zu unterdrücken. Vielmehr erkennt er an, dass Emotionen ein wesentlicher Bestandteil des ethischen Lebens sind – aber sie müssen geordnet, gebildet und vernünftig gelenkt werden. Der tugendhafte Mensch ist nicht leidenschaftslos, sondern er lebt seine Gefühle im Einklang mit der Vernunft. Die Wut des Gerechten, das Mitleid des Großmütigen, die Freude des Freundes – sie alle sind nicht pathologische Ausbrüche, sondern gereifte Ausdrucksformen eines ethisch gebildeten Selbst.

Diese Sichtweise hebt die aristotelische Ethik auf ein besonderes Niveau. Sie ist nicht leibfeindlich, nicht gefühlsverneinend, sondern leibfreundlich und leibkritisch zugleich. Sie anerkennt, dass der Mensch ein sinnliches, fühlendes Wesen ist – aber eben eines, das zu vernünftiger Selbstgestaltung fähig ist. Der Mensch wird nicht gut, indem er seine Affekte auslöscht, sondern indem er lernt, sie klug und maßvoll zu leben, sie dem Guten unterzuordnen und darin seine Freiheit zu finden.

Freundschaft als Schule der Tugend – Das Ethische im Zwischenmenschlichen

Die Tugendethik des Aristoteles bleibt nicht beim Individuum stehen. Sie entfaltet sich wesentlich in der Freundschaft (philia), die er in der „Nikomachischen Ethik“ als eine der höchsten Ausdrucksformen des tugendhaften Lebens beschreibt. In der Freundschaft begegnet der Mensch dem Anderen nicht als Mittel, sondern als Zweck; nicht als Konkurrent, sondern als Spiegel und Ergänzung seiner selbst. Die Freundschaft ist nicht nur ein soziales Phänomen, sondern ein ethischer Ort: In ihr wird Tugend geübt, gespiegelt, verstärkt. Der Freund hilft mir, gut zu sein – nicht durch moralische Belehrung, sondern durch gegenseitige Lebensführung, durch Teilhabe an einem gemeinsamen Streben nach dem Guten.

Aristoteles unterscheidet zwischen verschiedenen Arten von Freundschaft – der auf Nutzen, der auf Lust und der auf Tugend gegründeten. Nur die letzte ist wirklich dauerhaft, weil sie nicht vom Äußeren, sondern vom inneren Wert des Anderen getragen ist. Die tugendhafte Freundschaft ist ein Bündnis zwischen gleichen Seelen, eine Lebensgemeinschaft im Streben nach Weisheit, Gerechtigkeit und Maß. Sie ist, so sagt Aristoteles, sogar ein „zweites Selbst“ – ein geistiges Echo, in dem sich der Mensch selbst klarer erkennt.

Tugend und Endlichkeit – Ethische Größe unter Bedingungen der Welt

Die aristotelische Ethik ist bei aller Ausrichtung auf das Gute nie weltfremd. Sie anerkennt die Begrenztheit des Menschen, seine Abhängigkeit von Umständen, Schicksal, Gesellschaft. Glück ist für Aristoteles nicht nur das Resultat innerer Haltung, sondern auch abhängig von äußeren Bedingungen: Gesundheit, Wohlstand, Freunde, politische Ordnung. Tugend allein reicht nicht aus – aber sie macht den Menschen fähig, mit Widrigkeit umzugehen, das Leben anzunehmen, ohne sich zu beugen. Gerade in ihrer realistischen Grundhaltung, die das Ideal nie vom Leben ablöst, liegt die bleibende Modernität dieser Ethik.

Der tugendhafte Mensch weiß um seine Endlichkeit, aber er handelt, als ob das Gute immer möglich wäre. Er ist kein Träumer, sondern ein Gestalter, der sich nicht der Welt anpasst, sondern sie mit Maß und Einsicht durchdringt. Er strebt nicht nach einer Perfektion, die alles kontrollieren will, sondern nach einer menschlichen Größe, die in Maß, Mäßigung und Menschlichkeit besteht.

  • Zitieren
  • Vorheriger Artikel Die vier Ursachen (causae): Material-, Form-, Wirk- und Zweckursache als Erklärung der Wirklichkeit
  • Nächster Artikel Glückseligkeit (Eudaimonia): Das höchste Ziel des menschlichen Lebens

Kategorien

  • Thema Philosophie

Archiv

  1. 2025 (6)
    1. April (6)
      • Aristoteles’ Naturphilosophie – Bewegung, Zeit, Ort und Naturgesetze im aristotelischen Sinne
      • Aristoteles’ Substanzlehre (Ousia) – Was macht ein Ding zu dem, was es ist?
      • Die Seele (Psyche): Aufbau und Funktionen der Seele im Werk De Anima
      • Glückseligkeit (Eudaimonia): Das höchste Ziel des menschlichen Lebens
      • Die Tugendethik: Das Streben nach dem „rechten Maß“ (mesotes) und die Idee der aretē (Tugend)
      • Die vier Ursachen (causae): Material-, Form-, Wirk- und Zweckursache als Erklärung der Wirklichkeit

Tags

  • #philosophie
  • #philosophisch
  • #wahrnehmung
  • #wahrnehmen
  • #wissen
  • #wissenswertes
  • #betrachtung
  • #denkweise
  • #denkmodell
  • #denken
  • #denkstruktur
  • #blog
  • #plattform
  • #aristoteles
  • #ethik
  • #ethisch
  • #ethik-moral
  • #tugend
  • #tugendlehre
  • #ethik-weg
  • #tugend-ethik
  • #streben
  • #rechtes-maß
  • #mesotes
  • #idee
  • #arete

Heiß diskutierte Artikel

  • Aristoteles’ Naturphilosophie – Bewegung, Zeit, Ort und Naturgesetze im aristotelischen Sinne

    1 Kommentar
  • Die Seele (Psyche): Aufbau und Funktionen der Seele im Werk De Anima

    1 Kommentar
  • Ethik bei Thomas von Aquin – Das Gute, das Ziel des Menschen und der Weg dorthin

    1 Kommentar
  • Die 10 besten Bücher für den Einstieg in die Philosophie

    1 Kommentar
  • Sprache und Wirklichkeit – Wie Worte unsere Welt formen

    0 Kommentare
  1. Diskussionen
  2. Wer ist Online?
  3. Suchfunktion
  4. Impressum
  5. Cookie-Richtlinie
  6. Datenschutzerklärung
  7. Kontakt
Community-Software: WoltLab Suite™
Style by DohTheme